Der Wolf geht um
Einst war der Wolf ausgerottet in der Schweiz. Heute reisst er wieder Schafe, Geissen und manchmal sogar Rinder. Wie gehen betroffene Bauernfamilien damit um? Sehr unterschiedlich.
"Kanton Uri gibt Wolf zum Abschuss frei", "Wölfe reissen Rind im Kanton St. Gallen", "Wölfe überspringen Zaun und reissen zehn Tiere". Der Wolf sorgt dieses Jahr in der Schweiz für eine Schlagzeile nach der anderen. Vom ausgerotteten Raubtier, das man über Generationen hinweg nur noch aus Erzählungen kannte, ist er wieder zur realen Bedrohung für Nutztiere geworden. Auch wenn das lange niemand glauben wollte.
"Als wir vor 12 Jahren anfingen, uns mit Herdenschutz zu beschäftigen, sagten unsere Kollegen, dass wir spinnen", erinnert sich Bruno Zähner. "Der Wolf komme bis ins Wallis und dann werde er abgeknallt, meinten sie."
Zähner und seine Partnerin Sabrina Otto halten Milchschafe. Sie sömmern die Tiere jedes Jahr bis ungefähr September auf einer Alp. Zehn Schutzhunde und drei festangestellte Hirten bewachen die Herde in dieser Zeit.
Wie sehr die Kollegen des Bauernpaares mit ihrer Analyse daneben lagen, zeigen nicht nur die Medienberichte, sondern auch die Fakten: Gemäss Zahlen des Kompetenzzentrums für Raubtierökologie und Wildtiermanagement (Kora) leben derzeit 16 Wolfsrudel in der Schweiz. Im Januar dieses Jahres durchstreiften insgesamt rund 150 Wölfe den Alpenraum und auch das Mittelland. Fast doppelt so viele wie im Jahr 2019.
Den Schafen von Zähner und Otto sind schon einige dieser Wölfe über den Weg gelaufen. Trotz Schutzmassnahmen gingen diese Begegnungen nicht immer glimpflich aus. "Letztes Jahr hatten wir auf unserer Alp ungefähr 1300 Tiere. Inklusive Wolfsrissen haben wir 21 verloren", sagt Zähner. "Da sind aber auch Abstürze und mal eine Krankheit mit dabei." Ohne Schutzmassnahmen hätte es wohl anders ausgesehen. "Wenn der Wolf kommt und deine Herde nicht geschützt ist, dann tötet er 20 Tiere auf einmal", sagt Otto.
Der Wolf ist ein Opportunist
Warum tötet er so viele Tiere? "Der Wolf ist ein Hetzjäger und Opportunist: Er reisst Beute, wann immer sich eine günstige Gelegenheit bietet", schreibt das Kora auf seiner Website. Dieses Verhalten sei in der Natur sinnvoll, da der Jagderfolg oft ausbleibe und ein Wolf somit lange hungern müsse. "Er kann es sich nicht leisten, eine Chance auf Beute zu verpassen", heisst es weiter. Diese Natur des Wolfes führe dazu, dass flüchtende Tiere wiederholt den Tötungsinstinkt des Wolfes auslösen würden. Insbesondere in eingezäunten Schafsweiden könne das damit enden, dass er mehr Tiere töte als er fressen kann.
Auf den Tötungsdrang des Wolfes reagieren Bund und Kantone mit umfangreichen Vorgaben zum Herdenschutz und mit Regulierung, wie das Erlegen von Wölfen in der Sprache des Bundes heisst. Seit Sommer 2021 greift hier die revidierte Jagdverordnung, nach der gilt:
- Ist es ein Einzelwolf, der Herden überfällt, entscheiden die Kantone, wann die Wildhüter dem Räuber auf den Pelz rücken dürfen.
- Ist es ein ganzes Wolfsrudel, das Schaf, Geiss oder gar Rinder auf dem Speiseplan hat, entscheidet das Bundesamt für Umwelt über die Regulierung.
Die Frage, ab wie viel Schaden eine Regulierung nötig ist, beantworten die Kantone nicht alle gleich. Im Fall der Risse durch Rudel sind die Regeln jedoch eindeutig: Wolfsrudel dürfen nach zehn gerissenen Schafen oder Ziegen (mit Herdenschutz) reguliert werden.
Der Herdenschutz rentiert sich nicht für alle
Für die Bündner Geissbäuerin Ladina Lötscher gehen die Vorgaben und Regeln nicht auf. Wolf und Herdenschutz seien wie zwei Fussballmannschaften, die gegeneinander antreten, sagt sie. "Die schaukeln sich gegenseitig hoch. Nimmt man ein neues Element zum Herdenschutz dazu, lernt der Wolf, das wieder zu umgehen. Wo hört das auf?"
Ladina Lötscher und ihr Mann Abraham halten in Pany rund 140 Geissen. Die Tiere sind immer auf dem Betrieb respektive auf den direkt angrenzenden Weiden, damit sie nachts in den Stall können. "Das ist eigentlich nicht normal", sagt Lötscher. "Wir leben im Berggebiet, wir würden die Tiere gern sömmern, sie auf die Alp bringen. Doch aktuell sind wir unter diesen Umständen nicht sehr motiviert unser Sömmerungsprojekt mit den Ziegen weiterzuverfolgen. Obwohl es für Bergbetriebe wie unseren existenziell ist."
Für Familie Lötscher rechnet sich der Herdenschutz nicht. Aufwand und Ertrag stünden in keinem Verhältnis. Die Familie stösst sich vor allem am "überhöhten Schutz", den der Wolf gemäss Lötscher geniesst. "Ich finde, es sollte wie beim Hirsch oder Reh sein. Die muss man auch nicht zusätzlich schützen."
Die landwirtschaftliche Beratungsstelle Agridea zeigt sich angesichts derartiger Sorgen verständnisvoll, betont aber, dass eine sinnvolle Koexistenz von Menschen und Wölfen möglich ist. "Die Rückkehr der Wölfe bedingt Anpassungen in der Landwirtschaft, welche teils, zumindest anfänglich, auch mit Mehraufwand und Mehrkosten verbunden sind", schreibt uns die Beratungsstelle auf Anfrage.
Gemäss Agridea braucht es heute Zäune, wo es früher auch ohne ging. Da dies im Sömmerungsgebiet oft nicht möglich ist, seien "erste Schritte in Richtung Herdenschutz in der Sömmerung die Anstellung einer Hirtin und Nachtpferche". Falls nötig, könnten Produzent:innen in einem zweiten Schritt Herdenschutzhunde beiziehen, um den Schutz zu verbessern.
Seit 2003 hat sich die Zahl der Herdenschutzhunde fast verzehnfacht
Der Bund unterstützt Bauernfamilien finanziell mit Beiträgen an Zäune, an die Ausbildung der Schutzhunde, an die Löhne der Hirten und im Fall von nachweislichen Wolfrissen durch Entschädigung für die gerissenen Tiere – sofern die Schutzmassnahmen den Vorgaben des Bundes entsprechen.
Die Zahlen der Agridea zeigen, dass sich immer mehr Produzent:innen für den Herdenschutz entscheiden. So stieg etwa die Zahl der auf den Alpen eingesetzten Herdenschutzhunde zwischen 2003 und 2021 von 42 auf 297 Hunde. Die Zahl der Wolfsrisse sank trotz gewachsener Wolfspopulation sank 2021 zum ersten Mal seit 2019 wieder von 922 (2020) auf 867 (2021). Gemäss Agridea ist es aber noch zu früh, hier direkte Zusammenhänge erkennen zu wollen.
Ladina Lötscher winkt dennoch ab. "Jede Schutzmassnahme, die man ergreift, hat auch wieder eine Konsequenz. Mit den Schutzhunden kommt es zu Vorfällen mit Touristen oder Abstürzen von Kühen. Der Hund macht seinen Job, aber verantwortlich ist der Hundehalter", sagt Lötscher. "Drum: Bewahre mich vor Schutzhunden."
Der Schutz des Wolfes ist das Grundproblem, wie Lötscher im Gespräch immer wieder betont. "Das ist einfach nicht nötig", sagt sie. "Man sollte schlicht am Anfang der Jagdsaison bestimmen, dass so und so viele Wölfe erlegt werden dürfen. So wie das bei den Steinböcken läuft. Da ist das ja auch geregelt."
Debatte um den Wolf wird zu emotional geführt
Tatsächlich sieht die Agridea das ähnlich wie Lötscher: "Angesichts der weiterhin stark wachsenden Wolfspopulation ist eine stärkere Bejagung des Wolfes der nächste konsequente Schritt", schreibt die Beratungsstelle. "Dennoch wird am Herdenschutz in Zukunft kein Weg vorbeiführen."
Vielleicht bekommt Geissbäuerin Ladina Lötscher also doch noch zum Teil das, was sie sich wünscht. Die Emotionen in der Debatte werden dann wohl an einem anderen Ort aufkochen.
Bruno Zähner findet, dass die Debatte um den Wolf zu emotional geführt wird. "Die Bauern zählen auf, wie viele Tiere sie durch den Wolf verloren haben. 800, 900 oder 1000 Tiere schweizweit. Dann kommt die Pro-Wolf-Gruppe und sagt ‘Hey, euch sterben auf der Alp 5000 Schafe jedes Jahr. Da sind doch die paar hundert durch den Wolf ein Pappenstiel. Schaut doch mal besseren zu euren Schafen.’", sagt Zähner.
Tatsächlich sterben die Tiere auf der Alp, weil sie einen Herzinfarkt haben, weil sie abstürzen, weil ein Stein von oben kommt. Natürliche Mortalität nennt Zähner das. Wenn Bauern dafür verantwortlich gemacht werden, reagieren sie verständlicherweise genervt. Gleichzeitig würden die Bauern selbst, das Thema auch gern ausschlachten, sagt Zähner. Wenn der Wolf ein Schaf reisst, ist das am Abend in der Beiz spektakulärer als ein Schaf, das wegen einem gebrochenen Bein auf der Alp stirbt.
Verwendete Quellen
Jahresbericht Herdenschutz Schweiz 2021, https://www.protectiondestroupeaux.ch/fileadmin/doc/Berichte/Jahresberichte/Agridea/Jahresbericht_HS_2021_def.pdf (abgerufen am 16.08.2022)
Beitragsliste Herdenschutz, https://www.protectiondestroupeaux.ch/fileadmin/doc/Berichte/Jahresberichte/Agridea/Jahresbericht_HS_2021_def.pdf (abgerufen am 16.08.2022)
Der Wolf ist auf dem besten Weg, zum Schädling zu werden, https://www.nzz.ch/meinung/der-wolf-ist-auf-dem-besten-weg-zum-schaedling-zu-werden-ld.1697991?reduced=true (abgerufen am 16.08.2022)
Der Wolf in der Schweiz, https://www.uvek.admin.ch/uvek/de/home/uvek/abstimmungen/revision-des-jagdgesetzes/der-wolf-in-der-schweiz.html (abgerufen am 16.08.2022)
Herdenschutz, https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/biodiversitaet/fachinformationen/erhaltung-und-foerderung-von-arten/grossraubtiere/herdenschutz.html (abgerufen am 16.08.2022)
Porträt Wolf, https://www.kora.ch/de/arten/wolf/portrait (abgerufen am 16.08.2022)
Kanton Uri gibt Wolf zum Abschuss frei, https://www.tagesanzeiger.ch/kanton-uri-gibt-wolf-zum-abschuss-frei-991283808735 (abgerufen am 16.08.2022)
Wölfe reissen Rind im Kanton St. Gallen, https://www.tagesanzeiger.ch/woelfe-reissen-rind-im-kanton-st-gallen-776091212947 (abgerufen am 16.08.2022)
Immer mehr Kantone lassen Rudel dezimieren, https://www.tagesanzeiger.ch/immer-mehr-kantone-lassen-rudel-dezimieren-665564401210 (abgerufen am 16.08.2022)
Wolf soll geschossen werden, https://www.tagesanzeiger.ch/reisserischer-wolf-soll-geschossen-werden-876422572709 (abgerufen am 16.08.2022)
Einen Tag nach Abschussbewilligung erschiessen Wildhüter einen Wolf, https://www.tagesanzeiger.ch/einen-tag-nach-abschussbewilligung-erschiessen-wildhueter-einen-wolf-553716709188 (abgerufen am 16.08.2022)
Neues Wolfsrudel südlich des San Bernadino entdeckt, https://www.tagesanzeiger.ch/neues-wolfsrudel-suedlich-des-san-bernadino-entdeckt-551006035843 (abgerufen am 16.08.2022)
Wolf knurrt Person in Graubünden an, https://www.tagesanzeiger.ch/wolf-knurrt-person-in-graubuend (abgerufen am 16.08.2022)
Abschussbewilligung für weiteren Wolf im Wallis erteilt, https://www.tagesanzeiger.ch/abschussbewilligung-fuer-weiteren-wolf-im-wallis-erteilt-175840199450 (abgerufen am 16.08.2022)
Wölfe sollen vorbeugend reguliert werden, https://www.tagesanzeiger.ch/woelfe-sollen-vorbeugend-reguliert-werden-182858539850 (abgerufen am 16.08.2022)
Regierung widerruft Abschussbewilligung für Wolf, https://www.tagesanzeiger.ch/regierung-widerruft-abschussbewilligung-fuer-wolf-605617897528 (abgerufen am 16.08.2022)
Wölfe überspringen Zaun und reissen zehn Tiere, https://www.tagesanzeiger.ch/woelfe-ueberspringen-zaun-und-reissen-zehn-tiere-603755059492 (abgerufen am 16.08.2022)
Genug Schafe gerissen Graubünden gibt Wolf zum Abschuss frei, https://www.tagesanzeiger.ch/graubuenden-gibt-wolf-zum-abschuss-frei-720574604013 (abgerufen am 16.08.2022)
Der Problemwolf in Klosters darf geschossen werden, https://www.suedostschweiz.ch/ereignisse/der-problemwolf-in-klosters-darf-geschossen-werden (abgerufen am 16.08.2022)
Wölfe in der Schweiz: Kanton Graubünden darf Jungwolf zum Abschuss freigeben, https://www.nzz.ch/schweiz/woelfe-in-der-schweiz-die-neusten-entwicklungen-ld.1642076?reduced=true (abgerufen am 05.09.2022)