1600 Tote und 1 Million Vertriebene in 12 Monaten

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Einblicke

Wir haben mit dem langjährigen SRF-Afrikakorrespondenten Ruedi Küng ausführlich über Burkina Faso, Terrorismus und die Zukunft der Sahelregion gesprochen.

Bobo-Dioulasso

Bobo-Dioulasso ist mit einer Bevölkerung von knapp 1 Million Menschen die zweitgrösste Stadt in Burkina Faso. Befestigte Strassen gibt es trotzdem kaum.

Wir hören von Terroranschlägen in der Sahelregion, von Reisen nach Burkina Faso wird abgeraten – aber eigentlich wissen wir hier wenig über die aktuelle Situation in Burkina Faso. Wie schätzen Sie sie ein, was ist derzeit los in Burkina Faso?

Ruedi Küng: In Burkina Faso wurden in den vergangenen Jahren eine grosse Zahl von dschihadistischen Gewalttaten, Anschlägen und Angriffen verübt. Die Wochenzeitschrift Jeune Afrique etwa berichtet immer wieder mit genauen Angaben darüber. Der Norden und der Osten des Landes waren davon am meisten betroffen, doch auch das übrige Landesgebiet blieb nicht verschont, wie das Armed Conflict Event Data Project ACLED dokumentiert hat.1) Ausgeübt wird die Gewalt zum grössten Teil von dschihadistischen Milizen, aber auch von Angehörigen der Armee und der Polizei, sowie weiterer bewaffneter Gruppierungen und Milizen. Die Opfer sind zum einen die Dorfbewohnerinnen und -bewohner aller Alters- und Volksgruppen, sowie Soldaten und Polizisten. Gemäss ACLED sind in den vergangenen 12 Monaten mehr als 1'600 Burkinabè getötet worden. Mehr als eine Million wurden nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen UNHCR von ihrem Wohnort im eigenen Land vertrieben. Und weit über 2'000 Schulen wurden in der Folge des Terrors geschlossen.

Was unternimmt die Landesregierung gegen diese Gewalt?

Die prekäre Sicherheitslage, die das Leben so vieler Menschen verschlimmert, prägte als eines der dringlichsten Probleme des Landes die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom vergangenen November. Der wiedergewählte Präsident Roch Marc Christian Kaboré will den militärischen Kampf gegen die islamistischen Terrormilizen fortführen, hat gleichzeitig aber ein neues Ministerium für Nationale Wiederversöhnung geschaffen und einen prominenten Oppositionspolitiker zu dessen Chef ernannt.

Hat sich seither etwas an der Situation geändert?

Ende vergangenen Jahres ist die Zahl der Gewalttaten zurückgegangen. Experten führen dies auf ein geheimes Abkommen zwischen der Regierung und den islamistischen Organisationen wegen der allgemeinen Wahlen im November 2020 zurück, was die Regierung dementiert. 2021 steigt die Zahl der Gewaltakte wieder. Grosse Vorsicht bei Reisen ausserhalb der Hauptstadt Ouagadougou bleibt angebracht.

Wie ist das Land überhaupt in diese Lage gekommen?

Die Gewalttätigkeiten in Burkina Faso sind eine Folge der Destabilisierung der ganzen Sahel-Region nach dem Sturz des libyschen Machthabers Muammar Gaddafi 2011, zu dem französische und NATO-Streitkräfte beigetragen hatten. In der Folge wurde der Sahel mit libyschen Waffen und arbeitslos gewordenen erfahrenen Kämpfern “überschwemmt”, was als erstes Mali erschütterte. Dschihadistische Kräfte eroberten grosse Teile des Nordens mit der Stadt Timbuktu und drangen schnell in Richtung der Hauptstadt Bamako vor. Nur der massive Einsatz französischer Truppen vermochte sie zu stoppen.

Aber offenbar nicht dauerhaft.

Acht Jahre nach der Ankunft der französischen Streitkräfte sind die Dschihadisten aus den nördlichen Städten, jedoch nicht aus Mali vertrieben. Zudem haben sie sich in der ganzen Region ausgebreitet und sind heute auch im Südwesten von Niger und im Norden und Osten von Burkina Faso präsent. Gab es im Jahr 2005 gemäss ACLED in Burkina Faso noch keinen einzigen Fall von Gewalttätigkeit, waren es 2013 zwölf, 2020 schon 668. Einer der schwersten Anschläge ereignete sich am 16. Januar 2016, als bewaffnete Männer das Café-Restaurant Le Capuccino und das Hotel Splendide in Ouagadougou angriffen. 30 Menschen - darunter auch zwei Schweizer - wurden getötet, mehr als 50 weitere verwundet und über 170 vorübergehend als Geiseln genommen.

Hat sich jemand zu dem Anschlag bekannt?

Die Urheberschaft des Angriffs reklamierten zwei islamistische Terrororganisationen für sich, nämlich die ursprünglich algerische Al-Khaida im Islamischen Maghreb AKIM und die malische al-Murabitun, die damit angeblich «Rache an Frankreich und dem ungläubigen Westen» nehmen wollten.

Was sind deren Ziele?

Die Dschihadisten verüben nicht nur Terroranschläge. Sie erobern ganze Landstriche, setzen in den Dörfern mit brutalster Gewalt ihre rigid-islamischen Verhaltens- und Kleidervorschriften durch und rekrutieren unter den Bewohnern neue Anhänger. Damit haben sie Spannungen und Konflikte zwischen unterschiedlichen Religions- und Volksgruppen wie z.B. der Mossi und der Peul geschaffen, aber auch innerhalb und zwischen ländlichen Gemeinden, die zuvor in Burkina Faso meist in guter Nachbarschaft zusammengelebt hatten.

Wie reagieren die Menschen in den gefährdeten Regionen?

Traditionelle Verbände zum Schutz der Dorfgemeinschaften vor Kriminellen wie z.B. die sogenannten Dozo oder Kogleweogo, sowie die sogenannten Freiwilligen Vaterlandsverteidiger, kurz VDP, haben in der Folge selbst mit Gewalt reagiert. Auch aus Frustration über den ungenügenden Schutz durch die nationale Armee, was das Konfliktpotenzial vergrössert hat. Zusätzliche Brisanz erhält die gefährliche und komplexe Lage noch dadurch, dass der Präsident inzwischen die Rekrutierung von VDP-Freiwilligen zum Kampf gegen die Terroristen gesetzlich erlaubt hat. So trifft die terroristische Gewalt Christen und Muslime, wie Jeune Afrique schreibt.

Sie selbst haben jahrelang in afrikanischen Ländern gelebt und gearbeitet. Sehen sie Parallelen zu Entwicklungen in anderen Ländern?

Von der Gefährdung und Destabilisierung durch terroristische Islamisten sind mittlerweile viele afrikanische Gesellschaften betroffen. In grossem Ausmass beeinträchtigt sind insbesondere Mali, Niger und Burkina Faso, Nordnigeria und Kamerun, sowie Somalia und Nordmozambique. Die dschihadistischen Organisationen können vor allem in Gesellschaften, in denen wichtige Infrastrukturen wie Gesundheitsdienste, Strassen, Stromversorgung usw. ungenügend sind und die Präsenz des Staates entsprechend schwach ist, bei der Bevölkerung Anklang finden.

Wie äussert sich das konkret?

Experten der Crisis Group berichten etwa, dass die Dschihadisten bei Streitigkeiten in Gemeinschaften im Norden Burkina Fasos, wo die staatliche Justiz abwesend sei, richterliche Funktionen übernommen hätten. Es gelingt den islamistischen Extremisten immer wieder, unter den zahlreichen arbeits- und perspektivenlosen Jugendlichen Kämpfer zu rekrutieren. Wie das beispielsweise im Norden Nigerias geschieht, schildert der Schriftsteller Elnathan John in seinem Buch An einem Dienstag geboren eindringlich. Das hauptsächliche Mittel der Dschihadisten bleibt allerdings die brutale Gewalt des Terrors.

Was müsste passieren, damit eine positive Wendung möglich ist?

Die Herausforderung der betroffenen afrikanischen Staaten durch die islamistischen Terrororganisationen ist enorm. Frankreichs jahrelanges, beträchtliches Truppen- (5'100 Soldaten) und Waffen-Engagement in Mali zeigt, dass diese allein mit militärischen Mitteln nicht ausgeschaltet werden können. Die französischen Truppen vermögen es zwar, im Verbund mit Einheiten der sogenannten G5 Sahel-Staaten Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad die Dschihadisten von den Städten fernzuhalten, nicht aber auf dem Land, wo sie nach wie vor präsent und aktiv sind. Ausserdem können die französischen Truppen zur Lösung der im Gefolge des Kampfes gegen die Terroristen entflammten Konflikte zwischen unterschiedlichen Volksgruppen wenig oder nichts beitragen.

Was braucht es also Ihrer Meinung nach, damit sich wirklich etwas ändert?

Das könnte uns das Beispiel Mauretaniens zeigen, wie eine Analyse des Reliefweb2) zeigt. Nach schweren Terroranschlägen trat 2010 ein schärferes Anti-Terror-Gesetz in Kraft. Armee und Sicherheitskräfte wurden besser ausgerüstet, ausgebildet und entlohnt, leichte, mobile und flexible Wüsteneinheiten wurden geschaffen.

Also doch wieder vor allem militärische Massnahmen.

Stimmt, aber sie waren nur ein Teil der Anstrengungen. Gleichzeitig wurden nämlich Aufklärungskampagnen durchgeführt, um die «Tradition der Toleranz» des Islams zu verbreiten und die ideologische Radikalität der Terroristen zu brechen, sowie die Unterstützung der Öffentlichkeit im Kampf gegen den Extremismus zu fördern. In vielen Ortschaften verbesserte man die Grundversorgung mit Wasser, Strom, Schulen, Gesundheitszentren, Strassen und Mobiltelefonnetz.

Das hört sich fast ein wenig zu einfach an.

Gewisse Beobachter sind der Ansicht, dass der fast vollständige Rückgang von Terroranschlägen in Mauretanien in einer stillen Übereinkunft zwischen den mauretanischen Behörden und den Dschihadisten begründet sei. Mauretaniens Massnahmen – hier nur summarisch wiedergegeben – sind nicht einfach auf terroristische Situationen in anderen Ländern und Gebieten übertragbar. Aber solche oder ähnliche Massnahmen schliessen Gespräche nicht aus.

Halten Sie solche Gespräche in Burkina Faso für möglich?

In Burkina Faso wie im ganzen Sahel und auch auf französischer Seite galt es bisher als ausgeschlossen, mit den islamistischen Terroristen zu verhandeln. Man hält sie für unbeugsame Fanatiker, die ihre antidemokratische, bildungs-, kultur- und frauenfeindliche Handlung nicht aufzugeben bereit seien. Neuerdings gibt es jedoch Anzeichen, dass sich diese Haltung ändern könnte. Sowohl in der Burkinabè-Gesellschaft, als auch in Frankreich wird die Möglichkeit von Gesprächen mit gewissen Terrorgruppen erörtert. In Burkina Faso hält sich wie erwähnt hartnäckig das Gerücht über einen Waffenstillstand wegen der allgemeinen Wahlen. Was das erwähnte neue Ministerium für Nationale Wiederversöhnung hier zu leisten versucht und vermag, wird sich erst zeigen müssen.

Was können aus Ihrer Sicht wirtschaftliche Investitionen oder Aktivitäten bewirken?

Die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation insbesondere durch Investitionen, die Arbeitsplätze schaffen, ist grundsätzlich wünschenswert. Jugendliche können durch Ausbildung und Arbeitsmöglichkeiten einen Platz in der Gesellschaft finden und sich integrieren. Eine Garantie dafür besteht jedoch nicht. Die islamistische Ideologie spricht nicht nur die Armut, sondern auch immaterielle Werte wie etwa das Selbstwertgefühl an, das durch die Geschichte von Unterdrückung und Bevormundung der Menschen in Afrika erschüttert sein kann. Dass es den islamistischen Scharfmachern gerade mit gewaltsamer Unterdrückung und kultureller Knebelung gelingt, Anhänger zu gewinnen, ist das traurige Verhängnis der dschihadistischen Expansion in Afrika.


1) ACLED Data Dashboard (abgerufen am 30.04.2021)

2) Reliefweb: How has Mauritania managed to stave off terror attacks? (abgerufen am 30.04.2021)

Ruedi Küng beschäftigt sich seit 40 Jahren mit Afrika und hat elf Jahre in Uganda, Südafrika, Sudan und Kenia gelebt. Als Afrikakorrespondent von Schweizer Radio DRS – heute SRF – bereiste er zwölf Jahre lang den afrikanischen Kontinent südlich der Sahara. Seit 2010 verfolgt er mit InfoAfrica.ch als freier Afrikaspezialist die Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent und vertieft seine Kenntnisse durch kontinuierliche Recherchen und gelegentliche Reisen. Ruedi Küng war zudem Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz IKRK und Redaktor für internationale Politik beim Schweizer TV und Radio SRF.