Wenn der Tiger im Wald brüllte - Episoden aus dem Leben brasilianischer Sojabauern

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Einblicke

„Die ganze Familie war damals mit Hab und Gut neun Tage lang auf der Ladefläche eines Lastwagens unterwegs”, erzählt Deuclides Peraro über die Reise seiner Familie aus dem südlichen Bundesstaat Santa Catarina in die Region Capanema, Brasilien. Das war 1955, heute braucht man noch wenige Stunden für dieselbe Strecke.

Der 60-jährige Deuclides sitzt zusammen mit seinen beiden Brüdern Dilço (62) und Dilo (58) in der schattigen Veranda seines Hauses, die drei erzählen aus ihrem Leben. Die Brüder wohnen zusammen mit der jüngsten Schwester noch immer in der Gegend, in die sie als Kinder mit ihren Eltern kamen und betreiben hier Landwirtschaft. Unweit voneinander angesiedelt, arbeiten alle drei seit den Anfängen mit der gebana Brasil zusammen. Umgestiegen auf biologischen Landbau sind sie aber bereits vor 15 Jahren, als die erste Firma nach Capanema kam, die mit biologischem Soja handelte. Dilo erinnert sich noch gut: „Wir wurden ausgelacht, weil wir uns diese Mehrarbeit auf dem Feld aufhalsten”.

Auswandern, weiterwandern
Doch Anstrengungen scheuen die Peraros nicht. Die geschilderte Reise nach Capanema war nicht die erste und bei weitem nicht die beschwerlichste in der Familiengeschichte. Deuclides zeigt auf das mit Kohle gemalte Portrait eines Ehepaars, das im Wohnzimmer hängt: Es sind die Grosseltern, die Ende des 19. Jahrhunderts in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft aus Norditalien nach Brasilien ausgewandert sind.
Die Weiterreise in den 1950er Jahren unternahm die Familie um von einem staatlichen Kolonisierungsprogramm zu profitieren, das kostenlos Ländereien an Siedler übergab. Das Land war damals noch mit Urwald bedeckt, den die Kolonisten in mühsamer Handarbeit roden mussten. Wie es damals hier ausgesehen hat, zeigt ein Blick auf die andere Seite des kaum anderthalb Kilometer entfernten Iguaçufluss: Dank dem Nationalpark ist der ursprüngliche Wald dort bis heute erhalten geblieben. „Wenn der Tiger im Wald brüllte, sammelte uns der Vater im Haus um sich, um uns zu beschützen”, erzählt Dilço. Man habe Feuer entfacht und die Hunde losgelassen, um die Tiere zu verscheuchen. „Tiger” wird im Volksmund der Jaguar genannt, der heute nur noch im Nationalpark lebt.

Mit acht Litern Milch zur Schule
Angebaut wurde zunächst nur für den Eigenverbrauch, erst später begann die Familie Milch und Schweinefleisch sowie Mais und Soja zu verkaufen. „Unsere Mutter hatte uns spezielle Westen genäht, mit denen wir auf dem Rücken und vor dem Bauch je drei Liter Milch in die Stadt mitnehmen konnten, wenn wir zur Schule gingen”, erinnert sich Deuclides, „einen weiteren Liter nahmen wir in jede Hand.”
Als die Mutter 1965 mit dem zehnten Kind schwanger war, starb Vater Peraro. „Von da an war unsere Mutter mit uns allein. Trotzdem entschied sie sich, auf dem Land zu bleiben”, erzählen Deuclides, Dilço und Dilo nicht ohne Stolz. Und trotz harter Zeiten ist die Frau bis heute geblieben: Zusammen mit ihrer jüngsten, behinderten Tochter lebt die heute 89-Jährige bei Deuclides und seiner Frau Salete, die sie liebevoll pflegen.